Self-Portrait

© HASNA MANAI

Ich will die Last loswerden, die ich mir selbst bin, und gehen. Durch Straßen gehen, die ich nicht kenne und in denen die Leute von mir sprechen wie von einem Gespenst. Ich glaube, die einzige Möglichkeit, um mich leichter zu fühlen, ist, von Tunis wegzuziehen, weit weg. Weit weg von meinen Wurzeln. Sie ziehen uns immer so nach unten, diese Wurzeln! Ich beneide die Wolken darum, dass sie in der Luft hängen. Ich wäre gerne eine Wolke. Ich habe nie verstanden, wie man einen Satz wie „If you don’t like where you are, then change it. You are not a tree“ in die Praxis umsetzen soll. Ich habe versucht, woanders hinzugehen, bin aber immer gescheitert. Berlin ist die Stadt, in der ich gern wohne. Aber so weit bin ich noch nicht, dass ich den großen Käfig gegen einen kleineren tauschen würde. Ich will alle Käfige kaputtmachen. Um mit dem Ersten anzufangen: dem Leben. Das Theater ist meine Heimat und meine Heimat ist ein Theater. In Zukunft ist mir die Poesie als Heimat lieber. Ich mag es, ein Gedicht zu teilen, so wie man ein Stück Brot teilt, wenn man Hunger hat. In jeder Heimat, in jeder Poesie findet man Solidarität. Ich mag es, zu gehen. Aber ich gehe wenig. Schafe gehen in Herden. Ich bin von Geburt her eine Löwin, ich gehe allein. Im Blick jedes Menschen liegt der Horizont, der dauernd nach ihm ruft. In jedem Land schreibe ich eine Seite. Diese Seite ist meine neue Adresse. Ich bin in keiner Sprache zu Hause. Keine Sprache ist in mir zu Hause. Alle Sprachen können nicht sagen, was ich zu sagen habe. Das Leben ist die Summe der Entscheidungen, die jeder Mensch trifft. Man kann über jede Entscheidung im Leben streiten. Die der Nation wird einem angerechnet! Ein einziges Gedächtnis reicht nicht! Um den Lauf der Geschichte zu ändern, müssen wir neue Gedächtnisse klonen. Damit die Heimat mehr als ein Gedächtnis verdient und nicht auf ein einziges reduziert wird. Die Welt ist ohne Freund. Der Mensch ohne Seinesgleichen. Das Land ohne Herren. Die Kunst ohne Vormund. Die Zeit ohne Ausnahme. Alle Wege führen nach Rom, aber nur ein Weg führt zur Menschlichkeit! Frage dich lieber, was du tun musst, als was du tun willst! Wie jeden Abend bin ich mit dem Herzen heute im Osten und mit dem Geiste im Westen. Immer in Bewegung rund um die Welt, obwohl ich einfach nur wie ein Baum verwurzelt sein und die Welt spüren will, die um mich herum in Bewegung ist. Es ist mir lieber, umherzuirren, als zu stagnieren. Denn das Umherirren ist der Tanz der Erde. Auf Griechisch heißt Planet „umherirrender Stern“. Ich bin ein Planet, der über Grenzen und räumliche Beschränkungen hinwegtanzt. Ein Visum kann man mir verweigern, aber am Umherirren kann man meine Seele und meinen Geist nicht hindern.

Meriam Bousselmi, Egodysee (unvollendet)

Aus dem Französischen von Corinna Popp

Kurzbiografie

Meriam Bousselmi wurde 1983 in Tunis geboren. Sie ist eine arabisch- und französischsprachige Autorin, Regisseurin, Rechtsanwältin, Dozentin, Forscherin und Brückenbauerin. Sie absolvierte ein Studium der Rechts- und Politikwissenschaft und forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Universität Hildesheim zur Inszenierung von Gerechtigkeit bzw. zum Verhältnis von Justiz und Theater und setzt dieses Thema auch künstlerisch um.

In ihrer künstlerischen Arbeit verbindet sie die unterschiedlichsten Formen des Erzählens: literarische Texte, Theaterinszenierungen und performative Installationen. Sie reflektiert anhand verschiedener ästhetischer Formen die gegenwärtigen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse.  Indem sie Genres überschreitet und sich mit Tabuthemen auseinandersetzt, präsentiert sie ein kritisches Bild unserer Zeit. Ihre Arbeiten werden zu einem künstlerischen Statement gegen politische Manipulationen und die vorherrschenden negativen Narrative dieser Welt. Von 2002–2007 war sie als Autorin und Regisseurin am Centre Arabo-Africain de Formation et de Recherches Théâtrales in Tunis tätig.

© Bohumil Kostohryz

Als studierte Juristin beteiligt sie sich obendrein an der Formulierung von internationalen Rechten für bedrohte Künstler:innen weltweit sowie für die generelle Freiheit der Kunst in ihren verschiedenen Ausdrucksformen.  2010 wurde sie als Anwältin bei der Rechtsanwaltskammer in Tunis zugelassen.

Drei Jahre zuvor war sie bereits mit dem Theaterpreis der Organisation Ressources culturelles für das Stück »Zapping sous contrôle« (Ü: Zappen unter Kontrolle) ausgezeichnet worden und hatte zudem den Literaturpreis des Arab Fund for Arts and Culture für ihr Roman „Brouillon de vie“ (2007; Ü: Entwurf eines Lebens) erhalten. 2011 wurde ihr Stück „Mémoire en retraite“ (dt. »Gedächtnis im Ruhestand«) beim vierten Arabischen Theaterfestival mit dem Sheikh Sultan Bin Mohammed Al Qasimi Award als beste arabische Theaterperformance gewürdigt. 2012 war Meriam Bousselmi Stipendiatin der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin und entwickelte für Globalize Cologne, eine internationale Plattform für Theater und Tanz, die Performance-Sequenz „Odette“. 2013 folgten die Stücke „Sünde Erfolg“ in Köln sowie „Truth Box“ ein öffentlicher Beichtstuhl, der sowohl in Berlin als auch in Mülheim am Theater an der Ruhr, Luxembourg, Paris und Avignon, an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum installiert, Besucherinnen und Besucher dazu aufforderte, fremden Sünden Absolution zu erteilen. 2014 wurde ihr Stück „Was der Diktator nicht gesagt hat“ in Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg uraufgeführt. In dem Einpersonenstück versucht ein namenloser Exdiktator das Schweigen, das nach seiner Absetzung um ihn herum herrscht, durch imaginierte Gespräche zu füllen. Wie in früheren Texten geht es der Autorin auch hier darum, aufzuzeigen, wie Menschen Opfer von politischer Manipulation und im schlimmsten Fall zu Helfershelfern einer Diktatur werden.

© Hartwig klappert International Literature Festival Odessa 2, Rethinking Europe – Michael Fischer Symposion

2016 war Meriam Bousselmi Gast des DAAD Künstlerprogramms in Berlin (Sparte Literatur). Mit dem Stück „Was der Diktator nicht gesagt hat“ wurde sie 2015 zum Festival Primeurs in Saarbrücken eingeladen. Im selben Jahr war sie in Koproduktion mit MOUSSEM, dem Nomadic Arts center an einer zweiten Inszenierung ihres Stücks beteiligt, die beim Festival Avignon Off, im Bozar in Brüssel und in der Akademie der Künste Berlin im Rahmen von Ausstellungsprojekt: „Uncertain States – Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen“ gezeigt wurde. Das Stück wurde auch ins Dänische von Per Aage Brandt übersetzt und von dem Regisseur, Jacob F. Schokking (Holland-Haus) in Kopenhagen inszeniert. Es war das erste Theaterstück einer arabischen Autorin, das beim FESTIVAL OF EUROPEAN CONTEMPORARY PLAYWRIGHTS 2015 präsentiert wurde. Die Dänische Erstaufführung von „Det som Dikatatoren ikke sagde“ fand 2016 auf einer der prestigeträchtigsten Bühnen in Kopenhagen, dem Takkelloftet, statt und wurde von der Kritik gefeiert.

Seitdem Meriam Bousselmi im Anschluss an die Schreibresidenz des Artists-in-Berlin-Programms des DAAD 2017 nach Berlin gezogen ist, hat sie einen mehrsprachigen Schreibstil und einen interdisziplinären künstlerischen Ansatz entwickelt. Ihre neueren Projekte übersetzen Begriffe wie Dialog, Transfer und Vermischung der Erzählweisen in die Praxis: „Ein Blick auf die Welt“ (2017) ist eine 50-minütige Performance im Dunkeln, in der sich mehrere Geschichten, die davon handeln, was uns gegen die Macht von Dunkelheit und Verzweiflung zusammenhält, zu einer Klangpolyphonie überlagern. „Heimat Wort“ (2019) zeigt anhand einer Lesart der Biographie von Hilde Domin, wie die Sprache und das Übersetzen zu einer neuen Heimat werden können. „Der Titel ist Frei übersetzbar“ (2020) fächert die Möglichkeiten auf, innerhalb dessen zu kommunizieren, was sie den „Sprachdschungel“ nennt. Die Worte erzählen nicht nur eine Geschichte, sondern bringen sie überhaupt erst hervor.

2021 ist Meriam Bousselmi als Stipendiatin zu Gast im Heinrich-Böll-Haus in Kreuzau, wo sie ein neues Stück vorbereitet: „Mutfabrik“.

Referenzen